Herzlichen Dank, dass Sie sich Zeit für uns nehmen. Sie sind 1.40m groß. Wann ist Ihnen denn zum ersten Mal aufgefallen, dass Sie nicht so groß werden wie andere Menschen?
Niko Kappel: Ich weiß das nur von Erzählungen. Bei mir war das so, dass ich vom Kindergarten nach Hause gekommen bin und meine Mutter gefragt habe, warum wenn alle Kinder im Stuhlkreis sitzen, alle Füße zum Boden reichen, nur meine nicht. Dann hat meine Mutter mir erklärt, dass ich nicht so groß bin, nicht so schnell wachse und daher meine Füße nicht auf den Boden reichen. Für mich war die Erklärung dann völlig ausreichend und das Thema war erledigt. Das war so das erste Mal, dass mir aufgefallen ist, dass ich anders bin.
Worauf ist denn der Kleinwuchs bei Ihnen zurückzuführen?
Niko Kappel: Also die genaue Ursache kennt man noch nicht. Es ist eine Spontanmutation, also eine Beschädigung bzw. Veränderung des Erbgutes. „Laune der Natur“ heißt es immer. (lacht). Keine Ahnung, warum das passiert. Ich weiß auch nicht, ob man da inzwischen mehr weiß – aber ich bin da auch kein Fachmann für.
Es gibt unterschiedliche Kleinwuchsformen. Ich habe die häufigste Form: Achondroplasie, wobei die Röhrenknochen betroffen sind. Gerade Oberschenkel- und Oberarmknochen sind besonders betroffen, der Oberkörper ist ja fast normal groß.
Welche Einschränkungen gibt es in Ihrem Alltag, z.B., dass Sie nicht überall drankommen? Gibt es überhaupt Einschränkungen?
Niko Kappel: Wenn ich gefragt werde ‚Was gibt es für Einschränkungen?‘, beantworte ich das immer gar nicht so gerne, denn Einschränkungen hat ja jeder so ein bisschen. Wenn jemand besonders groß ist und demjenigen etwas auf den Boden fällt, ärgert er sich deutlich länger darüber als ich. Wenn mir etwas auf den Boden fällt, hebe ich es schnell wieder auf. Wenn ich aber jetzt irgendwo nicht hochkomme, ist das zuhause nicht das Problem. Ich glaube, in jedem Haushalt gibt es einen Hocker und dann nehme ich eben auch einen Hocker. Ich benutze den eben zwei-, dreimal häufiger als es in anderen Haushalten der Fall ist und auch sonst geht das eigentlich.
Und wie sieht es mit dem Autofahren aus?
Niko Kappel: Als ich meinen Führerschein gemacht habe, habe ich mir erst ein Auto kaufen müssen, bevor ich überhaupt den Führerschein hatte, weil ich mit dem Auto dann auch schon die Fahrstunden gemacht habe. Es gibt natürlich vereinzelt auch spezielle Fahrschulen, die entsprechende Umbauten haben. Ich wollte aber die Fahrschule gerne in Welzheim absolvieren, wo ich auch immer noch wohne und gut vernetzt bin. Meinen Fahrlehrer kannte ich auch schon lange und habe mich dazu entschieden, dass ich gerne bei ihm die Fahrschule machen möchte. So habe ich mir dann eben das Auto gekauft und das wurde umgebaut. Ich habe einen Schaltwagen gekauft, bei dem nur noch Steckpedale ergänzt werden mussten, sodass ich beim Autofahren nicht stehen muss. Das hört sich immer so gewaltig an, aber das ist eine sehr einfach Konstruktion. Innerhalb von dreißig Sekunden sind die Steckpedale abmontiert oder auch wieder anmontiert, sodass auch jeder andere das Auto fahren kann. Tatsächlich ist es bei den modernen Automatikautos so, dass man den Sitz so weit nach vorne verstellen kann, dass ich zusätzlich nichts mehr verändern muss. Jetzt fahre ich einen Audi und der ist original und unverändert. Das einzige, was ich noch zusätzlich benutze, ist so ein kleines Kissen. Da die Oberschenkel eben besonders betroffen sind und der Sitz recht lang ist, habe ich dann das Kissen im Rücken. Das macht es einfach bequemer. Ein SUV oder Ähnliches wäre ein Problem (lacht), weil man da aufrechter sitzt und das wäre dann unbequemer – das kann ich mir zumindest vorstellen. Eine Limousine, wo man ein bisschen tiefer sitzt, ist dann einwandfrei.
Kommen wir zum Sportlichem. Wie hat Ihre sportliche Begeisterung begonnen?
Niko Kappel: Für mich war Sport schon immer ein megawichtiger Bestandteil im Leben. Schon als Kind mit vier, fünf Jahren habe ich mit dem Fußball Spielen angefangen. Das war meine erste Station, mein Vater war auch Fußballtrainer und deswegen war ganz klar, dass ich das machen möchte. Hier in Welzheim habe ich ganz normal in der Jugendmannschaft gespielt. Dann habe ich aber auch mal andere Sportarten ausprobiert. Meine Mutter ist Tennistrainierin – eine sportliche Familie – und ich habe Tennis ausprobiert. Ich habe mich einfach immer gerne bewegt und war viel mit meinen Kumpels unterwegs und draußen. Die Hausaufgaben mussten um halb drei fertig sein – egal wie die Hausaufgaben aussahen, Hauptsache sie waren fertig –, weil ich mit meinen Kumpels los wollte. Mindestens zwei- bis viermal hatte ich schon Fußballtraining, wir hatten auch einen starken Jahrgang und eine tolle Mannschaft zusammen, sodass wir im Kreis auch recht erfolgreich waren.
Fußball und Leichtathletik sind doch sehr verschieden. Wie kam es zum Wechsel der Sportarten?
Niko Kappel: Es gibt halbjährlich Meetings für Kleinwüchsige, das hört sich immer fast ein bisschen negativ an, aber wir treffen uns da ein Wochenende lang, treiben gemeinsam Sport, die Älteren trinken etwas, man tauscht sich aus und genießt zusammen die Zeit. Für das Abitur und die Sportstunden ist hier auf die Leichtathletik eingegangen worden – Leichtathletik habe ich schon immer gerne geschaut. Im Sommer haben wir das zuhause im Fernsehen gesehen. Für die Benotung wollten die Lehrer möglichst viele Werte von Kleinwüchsigen haben, um zu wissen, welche Werte für einen Kleinwüchsigen gut sind. Es war so, dass ich dabei im Sprintbereich und im Wurfbereich mit Abstand gewonnen habe. Den 70g-Ball habe ich über vierzig, fünfzig Meter weit geworfen. Auch in der Schule, in einer „normalen“ Realschule, war ich mit den Werten gut dabei, obwohl ich kleinwüchsig bin. 2008 habe ich dann auch noch durch einen Zufall im Nachgang Ausschnitte der Paralympics gesehen, wo Matthias „Matze“ Mester (Anmerkung der Redaktion: kleinwüchsiger Kugelstoßer und Speerwerfer) Silber im Kugelstoßen gewonnen hat. Die Wurf- und Technikdisziplinen fand ich spannend, sodass ich eins und eins zusammen gezählt habe und mir dachte, dass ich mich dort mit meines Gleichen messen kann. Vorher hatte ich gegenüber den anderen Kleinwüchsigen herausgefunden, dass wohl so ein gewisses sportliches Talent da ist (grinst). So habe ich angefangen, Leichtathletik zu trainieren – auch wieder ganz normal hier in Welzheim in einem Verein in der Leichtathletikabteilung.
2018 sind Sie Profisportler geworden. Was waren die abschließenden Schritte zum Leistungssport?
Niko Kappel: Am Anfang habe ich alles trainiert, typisch Mehrkampf – wie man das so macht in dem Alter. Hochsprung konnte man das vielleicht nicht nennen, zumindest bin ich aber auf der Matte angekommen. Es war aber klar, dass es die Wurfdisziplinen werden. Dann ging es so peu á peu weiter. 2010 habe ich es in den Bundeskader mit der Drei-Kilo-Kugel geschafft und bin zur Junioren-Weltmeisterschaft mitgenommen worden. Kurz davor habe ich über den württembergischen Behindertensportverband einen neuen Trainer bekommen. So wurde ein früherer Landestrainer aus der Leichtathletik mein Trainer. Bei ihm habe ich bis 2014 in der Jugend trainiert und mich gut entwickelt. Dort habe ich vier-, fünfmal in der Woche trainiert und ich kam dem Spitzensport näher. Dreimal die Woche haben wir zusammen trainiert, zweimal die Woche habe ich alleine trainiert. Der letzte Schritt war schließlich Ende 2014 der Wechsel zum Trainer Peter Salzer an den olympischen Bundesstützpunkt Leichtathletik nach Stuttgart. Er ist eine Koryphäe im Kugelstoßen, der schon viele deutsche Meister und Olympiateilnehmer gestellt hat. In Rio de Janeiro 2016 z. B. waren drei Athleten von ihm (zwei olympische und ich) am Start – so viele Athleten hatte kein anderer Kugelstoßtrainer dort. 2015 bei der WM habe ich schon 12.85m und Silber erreicht. Später kam noch ein Athletiktrainer dazu, der auch noch mehr Zeit hat und z. B. das Knie, das mir 2018 in Berlin bei der Europameisterschaft Schwierigkeiten bereitet hat, in den Fokus rückt.
Im Juni 2020 haben Sie einen neuen Weltrekord mit (offiziellen) 14,30m bzw. (inoffiziellen) 14,40m gestoßen. Wie kam es zu dieser Leistung nach dem Lockdown?
Niko Kappel: Ich habe während des Lockdowns im Keller trainiert und dann wird oft gesagt: ,Da hat Dir das Kellertraining aber gut getan.‘ Ganz so ist es nicht. Wie jeder andere Athlet konnte ich mich im Keller nicht großartig weiterentwickeln. Aber die Zeit vor dem ersten Lockdown, und auch schon wieder danach, konnte ich hingegen ganz gut nutzen. Den Winter konnte ich vollständig durchtrainieren und habe schon in der Halle bei Wettkämpfen Bestleistungen gestoßen. Im Sommer habe ich einige Zentimeter „draufpacken“ können. Vom Rhythmus her hatte sich das also schon angedeutet.
Sie haben den Keller schon angesprochen. Wie haben Sie die Zeit des Lockdowns erlebt?
Niko Kappel: Wir kamen vom Trainingslager aus der Türkei zurück, noch während des Rückfluges ist bekannt gegeben worden, dass alle Flüge in und aus der Türkei eingestellt werden. Innerhalb von 24 Stunden war dort Feierabend. Am Montag wurden die Stützpunkte in Deutschland geschlossen. Dann habe ich mich an meinen Kellerraum erinnert, den ich sonst so genutzt habe: Kellerraum auf, irgendetwas rein, Kellerraum wieder zu. Das war bis dahin mein Kellerraum, in dem alles war, was ich nicht in der Wohnung haben wollte. Ich dachte, wenn ich den umsortiere oder gar aufräume, wird das eine Wochenaufgabe oder zumindest eine Wochenendaufgabe – aber Not macht erfinderisch. Wenn ich irgendwo mein Gym einrichten kann, dann dort, wo ich an der Außenwand auch gegen die Wand stoßen kann. Und dann musste ich vor allem zügig machen. Ich rief einen Kumpel an, der einen Autoanhänger hat und ich habe ihn gefragt, ob er die nächsten zwei, drei Stunden Zeit hat – das war alles montags – und er kam vorbei. Im Keller habe ich alles rausgehauen und alles, was ich ein Jahr lang nicht genutzt habe, kam weg.
Im Internet waren Sportgeräte schon fast ausverkauft, also habe ich beim örtlichen Händler angerufen, bei dem ich sonst Eiweißshakes oder andere Kleinigkeiten kaufe. Ich wusste, dass er auch Hanteln für das Homegym hat. Ich habe ihn gefragt, wie es aussieht, was er noch da hat. Er meinte, dass er eigentlich gerade Mittagspause hätte, aber es stünden schon wieder drei vor seiner Tür und ich solle mich beeilen. Ich meinte, ich brauche 50mm-Hanteln plus Gewichte, ich nehme alles mit – mit hundert Kilo komme ich nicht weit. Im Laden waren dann noch zwei, drei andere, die auch sportlich aktiv waren, aber mehr freizeitmäßig. Wir haben schließlich verhandelt, wer was mitnimmt. Ich habe die 50mm-Gewichte mitgenommen und die anderen die 30mm. Vom Athletiktrainer oder vom Stützpunkt würde ich die Hantelstange bekommen. Das haben wir dann auch gemacht. Mit meinem kleinen Auto, der war dann gut überladen mit 450 Kilo, bin ich wieder heim gefahren und habe mir mein Gym eingerichtet. Da habe ich drei, vier Wochen lang trainiert, wobei der Umfang etwas reduziert war. Jeden Tag habe ich so zwei, zweieinhalb Stunden trainiert. Das tat mir ganz gut, denn so konnte ich die Motivation super hochhalten, weil es schön war, dass ich das alles selber gemacht habe. Ich bin gelernter Bankkaufmann, da ist man handwerklich nicht unbedingt der größte. Deswegen war ich dann umso stolzer auf mich, als ich noch Gummimatten zur Dämpfung reingelegt hatte. Dort habe ich auch kein Training ausgelassen und durch die Nähe und die abgesagten Veranstaltungen hatte ich auch mehr Zeit.
Sie haben es schon angesprochen: sonst trainieren Sie auch mit nicht-gehandicapten Sportlern und haben ganz normal im Leichtathletikverein angefangen. Das würde ich als sehr inklusiv bezeichnen. Was ist für Sie Inklusion?
Niko Kappel: Tatsächlich würde ich sagen: genau das, wenn man keinen Unterschied macht. Während meiner Schulzeit gab es das Wort noch gar nicht und ich habe da auch nie Wert daraufgelegt. Ich finde, wenn man Inklusion hört, hat es stets den Touch, dass man eine Sonderbehandlung haben möchte. Nach dem Motto: alle Vorteile der Gesellschaft nehme ich mit, aber die Nachteile eher nicht – so hat man manchmal den Eindruck. Inklusion ist aber Teilhabe mit allen Vor- und Nachteilen. Für mich ist es wirklich Gleichstellung. Im Kindergarten, in der Grund- und Realschule war ich immer auf einer Regelschule und habe keine Sonderbehandlung erfahren. Klar, es gab auch schwierige Momente, z. B. zehnte Klasse Volleyball und der Lehrer hat den Schlag am Netz benotet. Da hat er mich angesehen und meinte ‚Schlag am Netz ist nicht so gut. Bei Dir bewerten wir eben einen Schlag mit Vorwärtsdrall aus dem Feld, der scharf hinter dem Netz aufkommen soll.‘ So haben wir eigentlich immer eine ganz gute Lösung gefunden. Ich kann mich auch an so Themen wie Bockspringen erinnern. Natürlich war ich im Bockspringen nicht gut, da war ich froh, wenn ich auf den Bock herauf und auch wieder herunter gekommen bin. Ein Kumpel von mir, der schon 1.80m groß war, brauchte dafür nicht mal seine Hände. Aber das ist eben Sport, das ist auch in der Schule so: ich konnte gut Mathe, Erdkunde, Geschichte, dafür waren Deutsch und Englisch nicht so meine Fächer. Das eine ist von der Persönlichkeit her – was man mag und was nicht – und das andere ist körperlich. Körperlich ist es härter und wir beschäftigen uns mehr damit.
Schönes Beispiel sind da z. B. die ganzen Diskuswerfer wie z.B. Robert Harting. Ich glaube, dass er supersportlich in allen Bereichen ist, aber nie im Turnen. Das kann ich mir einfach nicht vorstellen. Auf der anderen Seite werden die Turner wie Marcel Nguyen oder Fabian Hambüchen auch keine Diskuswerfer, weil sie einfach die körperlichen Voraussetzungen und die Hebel dafür nicht haben. Jetzt kann man mich dazu fragen, warum ich Kugelstoßer geworden bin, ich bin ja auch nicht größer als Fabian Hambüchen, aber bei den Kleinwüchsigen sind die Hebel besser. So ist es halt. Wenn ich an meine Schulzeit noch einmal zurückdenke: wenn dann nämlich Bodenturnen kam, hatte ich kein Problem mehr – Rolle vorwärts, rückwärts, Handstand, Salto. Mein Kumpel mit seinen 1.80m war gerade froh, wenn er rechts und links dabei unterscheiden konnte.
Für mich war das immer passend und ich fühle mich auch jetzt in der Trainingsgruppe super aufgehoben. Inzwischen sind da auch ein, zwei paralympische Sportler mehr. Das ist schon ein besonderes Konstrukt, da der Leichtathletikverband Baden-Württemberg die Trainer stellt – eigentlich gehören wir ja zum deutschen Behindertensportverand –, aber der Verband möchte, dass die besten Kugelstoßer bei ihnen trainieren. Bessere Bedingungen als in Stuttgart bekomme ich nicht und der Erfolg gibt uns Recht.
Abseits des Trainingsplatzes sind Sie auch für Ihre Späße, besonders im Duo mit Matthias Mester bekannt – zuletzt z. B. mit der SWR-Serie „Die Halbstarken“ oder den von Mester iniitierten „parantänischen Spielen“. Wie sehen die Reaktionen darauf aus? Müssen Sie auch Vorurteilen begegnen?
Niko Kappel: Inzwischen glaube ich, dass die meisten das ganz gut aufnehmen. Ab und zu liest man dann schon mal den ein oder anderen Kommentar oder die Leute unterhalten sich zuhause, nach dem Motto ‚die Halbstarken‘ das sei diskriminierend. Wir versuchen schnell darauf zu antworten, dass wir uns den Namen selber ausgesucht haben und lenken dagegen. Jemand anderes muss meine Gefühle nicht fühlen, darüber kann er keine Aussage treffen. Das sind die Oberkorrekten und das nervt mich auch echt. Wenn die Oberkorrekten schreiben, das sei Diskriminierung und die armen Kerle usw. Ne, nichts die armen Kerle! Uns geht es gut, wir haben ein schönes Leben. Toi, toi, toi, ich bin gesund und kann das Leben genießen. Kleinwuchs zähle ich auch zu gesund, da gibt es ganz andere Dinge und daran versuche ich mich auch zu erinnern. Manchmal vergisst man das im Alltag, wie gut es uns geht. Oder wenn man sich über den Sport ärgert, muss ich mir sagen, dass ich mir das selbst ausgesucht habe. Ich durfte mein Hobby zum Beruf machen, Anfang 2018 bin ich Profisportler geworden. Alternativ könnte ich auch ganz normal in der Bank weiterarbeiten. Ab und zu muss man sich einfach daran erinnern, aber Ärger gehört auch zum Leben dazu, gerade beim Schwaben. Eines habe ich mir hinter die Ohren geschrieben, dass ich bestimme, was ich tue und was ich nicht tue. Das ist auch das einzige, was ich beeinflussen kann. Ich kann den ganzen Tag auf dem Sofa sitzen und mich darüber ärgern, dass ich kleinwüchsig bin und was ich nicht kann. Aber ich kann auch den ganzen Tag auf dem Sofa sitzen und denken ‚geil, das ist eine Stärke von dir, da bist du gut drin‘. Genau diese Stärken möchte ich nutzen. Das kann jeder machen. So sind wir Menschen. Wenn alle so wären wie ich, wären wir alle Bänker und das wäre der Untergang der Welt.
Zum Abschluss noch ein Blick in die Zukunft: was sind denn die nächsten sportlichen Ziele? Geht es demnächst über die fünfzehn Meter hinaus?
Niko Kappel: Ich habe mir da schon viel ausgerechnet, dass ich in großen Schritt in Richtung der fünfzehn Meter komme. Am 21. August 2020 bin ich bei einem Wettkampf in Leverkusen – bei meinem persönlich gesetzten Höhepunkt der Saison – wieder in die Realität zurückgekommen, als ich nur 13.15m gestoßen habe. Deswegen bin ich wieder ein bisschen zurück auf dem Boden der Tatsachen angelangt (lacht). Aber das Ziel und der Weg ist eigentlich klar: es soll in Richtung fünfzehn Meter gehen. Es ist die Frage, wie nah wir dort herankommen, weil es schwierig einzuschätzen ist, wo ein Kleinwüchsiger hinstoßen kann. Jeden Tag stellen wir uns die Frage neu, wo an der Technik noch etwas verändert werden kann, wo der Kleinwüchsige einen Vorteil hat, wo noch etwas kompensiert werden muss, weil die biomechanischen Gesetze gegenüber einem olympischen Sportler anders sind. Jeden Tag arbeiten wir daran, nehmen viele Videos auf, machen Messungen. Da bleiben wir dran, doch inzwischen würde ich nicht mehr ausschließen, dass fünfzehn Meter von einem Kleinwüchsigen gestoßen werden können. So ein Potential gibt es auch bei mir noch von der Technik und der Kraft und ich bin erst 25 Jahre alt, das ist für das Kugelstoßen noch kein Alter. Ich möchte schon in diese Regionen kommen – man darf sich ja Ziele setzen. Am liebsten dann nächstes Jahr in Tokio, aber mir reicht auch wieder der eine Zentimeter mehr – so wie in Rio 2016.
In diesem Sinne drücken wir Niko Kappel für die paralympischen Spiele in Tokio 2021 die Daumen.
Das Interview führte Katharina Tscheu.
Bildquelle: André Jung
„Bonsai“ ist eine japanische Art der Gartenkunst, bei der kleine Bäume zu kleinen Kunstwerken herangezogen werden und der Spitzname von Niko Kappel. Sein Spitzname kommt nicht von ungefähr, denn Niko Kappel gehört mit 25 Jahren, 70 Kilo und einer Körpergröße von 1.40m zu den besten kleinwüchsigen Kugelstoßern der Welt. Seine Körpergröße ist auf die häufigste Kleinwuchsform, auf die Achondroplasie zurückzuführen. Durch eine Genmutation kommt es zu einer Störung bei der Knochenbildung, von der vor allem Röhrenknochen wie die Oberschenkel- oder Oberarmknochen betroffen sind. Er selbst erachtet sich nicht als gehandicapt und sagt von sich, dass er mit seinen 1.40m schon zu den größeren Kleinwüchsigen gehört.
Vielleicht gab genau dies in Rio de Janeiro bei den Paralympics 2016 den entscheidenden Ausschlag, als er mit einem Zentimeter Vorsprung Gold im Kugelstoßen gewann, ein Jahr später wurde er Weltmeister und hat sich erst vor Kurzem seinen Weltrekord zurückerobert. Doch auch Abseits des Sports erhebt er seine Stimme, fällt mit lustigen Aktionen in den sozialen Medien auf und wird aufgrund seiner Stellungnahmen und seines Engagements auch als „Außenminister“ des Para-Sports bezeichnet.
Sein nächstes Ziel sind die verschobenen paralympischen Spiele in Tokio 2021. Dort kann er dann auch seine Namensgeber kennenlernen.
Wir haben mit Niko Kappel gesprochen, um mehr über seinen Weg in den Leistungssport und seine Haltung zum Thema „Inklusion“ zu erfahren.