Diagnose:  Engagement auf die Fahne geschrieben

Conny Dietz als Fahnenträgerin beim BVB

Fahnen dürfen bei sportlichen Großereignissen nicht fehlen. Bei Olympia und Paralympics ist eine Eröffnungs- oder Abschlussfeier ohne Fahnen nicht denkbar, doch auch bei jedem Fußballspiel sieht man zahlreiche große und kleine Fahnen. Eine besondere Affinität zu Fahnen hat Paraylmpicssiegerin Cornelia „Conny“ Dietz. 1996 holte sie mit der Mannschaft im Goalball die Goldmedaille. Hier spielen nur blinde und sehbehinderte SpielerInnen. Seit ihrer Geburt ist Conny sehbehindert. Sie kam mit der Stoffwechselerkrankung Albinismus zur Welt. Albinismus ist dabei nur ein Oberbegriff für zahlreiche Veränderungen und Störungen bei der körpereigenen Herstellung von Farbpigmenten. Menschen mit Albinismus haben dadurch oftmals hellere Haut und blonde bis weiße Haare. Farbpigmente wie Melanin spielen ansonsten aber auch eine große Rolle bei der Entwicklung der Augen und der Ausbildung der Netzhaut. Wie gut jemand daher mit Albinismus noch sehen kann, ist dabei sehr individuell. Mit der vererbbaren Erkrankung kann man jedoch ein weitgehend normales Leben führen. 

Im Gespräch erzählt Conny uns nicht nur von ihrem aufregenden Leben mit zahlreichen Höhepunkten wie der paralympischen Eröffnungsfeier 2008, als sie die Fahnenträgerin des deutschen Teams war, sondern auch wie ihre Leidenschaft für den Verein Borussia Dortmund entstand und welches Engagement sie sich auf die Fahne geschrieben hat. 

 

Hallo Conny, vielen Dank, dass Du unsere zahlreichen Fragen beantworten möchtest. Zu Beginn habe ich direkt eine offensichtliche Frage: warum bist Du überhaupt sehbehindert?

 

Conny Dietz: Ich habe Albinismus, also eine Stoffwechselerkrankung. Mein Bruder, der sechs Jahre älter ist, hat das auch und ist ebenfalls sehbehindert, allerdings nicht so stark wie ich. Dennoch kann er wie ich kein Auto fahren. Er kann aber z. B. auf der anderen Straßenseite noch jemand erkennen, was ich nicht mehr kann.

 

Wie kann ich mir denn vorstellen, was Du noch sehen kannst?

 

Conny Dietz: Ich kann noch zwei Prozent sehen: Umrisse und Farben. Das kann man sich vorstellen, als wenn Wasserfarben ineinanderfließen. Die Konturen sind eher unscharf. Wenn die Objekte nah bei mir sind, werden sie schärfer und je weiter weg sie sich befinden, desto unschärfer werden sie. Aber dadurch, dass ich schon seit dem Kindesalter damit lebe, lernte ich schnell, wie ich hören und sehen bestmöglich für mich kombinieren kann. Durch das Training im Blindensport verbesserte sich die Abstimmung immer weiter. Außerdem verbrachte ich meine Jugendzeit mit sehenden Kindern und probierte einfach aus. Wenn ich an Orten bin, an denen ich mich auskenne, weiß ich genau Bescheid, wo sich z. B. Stufen befinden. Ich mache immer noch vieles intuitiv. Bei Tageslicht verzichte ich an mir bekannten Orten auf den Blindenstock.

 

Hast Du neben dem Blindenstock noch weitere Hilfsmittel in Deinem Alltag?

 

Conny Dietz: Neben dem Blindenstock nutze ich verschiedene Lupen. Aber auch das Handy hat eine Lupe, was eine große Erleichterung ist. Handys gehören mittlerweile zu den besten Hilfsmitteln.

 

Als Du zur Schule gingst, gab es noch keine Handys und über Inklusion sprach ebenfalls noch niemand. Wie verlief für Dich Deine Schulzeit?

 

Conny Dietz: Ich wuchs inklusiv in einem kleinen Dorf im Süden Baden-Württembergs auf. Mit meiner hochgradigen Sehbehinderung ging ich ganz normal und ohne Hilfsmittel zur Schule – das war wirklich schwierig. Zum Teil hatte ich Unterstützung, aber nicht immer. Ein Beispiel aus dem damaligen Unterricht: wir mussten einen Text von der Tafel abschreiben, ich saß natürlich in der ersten Reihe, aber konnte es dennoch nicht lesen. Daher musste ich aufstehen, zur Tafel gehen, lesen, zum Platz zurückgehen und den Text aufschreiben. Bis ich am Platz angekommen war, hatte ich die Hälfte schon wieder vergessen. Also musste ich wieder aufstehen und zur Tafel gehen. Die anderen Kinder waren natürlich genervt von mir. Es waren gerade ab der fünften Klasse auch nicht alle MitschülerInnen nett zu mir – heute würde man vielleicht von Mobbing sprechen. Doch ich konnte mir ebenso schnell Respekt verschaffen (lacht).

 

Wie verlief Dein Weg von der Regelschule zum Para-Sport? Gab es einen bestimmten Moment, ab dem Du wusstest, dass Du Teil der paralympischen Familie werden möchtest?

 

Conny Dietz: 1976 fanden in Toronto die Weltspiele für Behinderte statt – von Paralympics sprach zu dieser Zeit noch niemand. Im Rahmen der Spiele sah ich eine Reportage über einen blinden Athleten und ich wusste, dass ich das auch machen möchte. Nach der Schulzeit ging ich zur Ausbildung nach Stuttgart. Während der Ausbildung schaffte ich es zeitlich noch nicht, mich einer Blinden-Sportgruppe anzuschließen. Doch als ich die Ausbildung beendete, fing ich in Stuttgart mit der Leichtathletik an. Von der Leichtathletik kam ich schließlich zum Torball.

 

„Das Turnier in Atlanta war das Turnier meines Lebens.“

~ Bei den paralympischen Spielen in Atlanta spielte sich Conny Dietz in das Turnier

und erfüllte sich mit der Goldmedaille einen Traum.

 

 

Auf der paralympischen Bühne kenne ich nur Goalball. Hier spielen drei blinde SpielerInnen in einem Team und versuchen einen Klingelball in das gegnerische Tor zu werfen. Der Gegner versucht dies natürlich zu verhindern. Was ist denn Torball?

 

Conny Dietz: Torball ist so ähnlich wie Goalball. Beim Torball ist das Feld kleiner: es ist zwei Meter schmaler und zwei Meter kürzer. Gespielt wird auch drei gegen drei. Der Ball ist leichter und es gibt Schnüre, die man nicht berühren darf und unter denen der Ball her gespielt werden muss. Beim Goalball hingegen gibt es Linien, zwischen denen der Ball beim Angriff aufspringen muss. Beim Torball gibt es dafür drei Matten vor dem Tor, die als Orientierung dienen. Von der Spielidee sind beide Sportarten aber ähnlich.

 

In Stuttgart begannst Du zunächst mit Torball. Wie wurdest Du schließlich Nationalspielerin im Goalball?

 

Conny Dietz: 1982 wurde die erste Meisterschaft für Frauen im Torball ausgetragen. In Stuttgart hatten wir eine schlagkräftige Mannschaft zusammen, mit der wir sofort Vizemeister wurden. Bei diesem Turnier suchte der Nationaltrainer vom Goalball Spielerinnen zur Gründung einer deutschen Frauennationalmannschaft im Goalball. Ich wurde ebenfalls gesichtet und war von diesem Zeitpunkt an im Kader der Nationalmannschaft. 1983 fand die erste Europameisterschaft im Goalball in Dänemark statt, bei der wir den vierten Platz belegten. Finnland und Dänemark waren damals schon sehr stark und auch länger im Training. In Skandinavien gibt es auch kein Torball, sondern nur Goalball.  Dazu muss man sagen, dass auch im Torball international gespielt wird, mit dem Unterschied, dass es nicht zu den Para-Sportarten gehört. Von 1989 bis 2004 spielte ich neben Goalball auch in der Torballnationalmannschaft. Dort errang ich mit meinem Team zweimal den Weltmeistertitel und dreimal den Europameistertitel. Mehrere Jahre lang war ich in beiden Teams auch die Kapitänin.

 

Der Weg bis zum Paralympicssieg im Goalball 1996 in Atlanta war aber noch weit, oder?

 

Conny Dietz: 1984 durfte ich meine ersten Weltspiele für Behinderte erleben, bei denen wir erneut Vierte wurden. Wir waren also immer knapp am Treppchen vorbeigeschrabbt. Für die Spiele in Atlanta 1996 hatten wir aber eine schlagkräftige Truppe zusammen. In dem Athletenheft, das zu den Spielen immer herausgegeben wird, stehen die Wünsche und Ziele der AthletInnen. Bei mir steht, dass ich paralympisches Gold erreichen möchte. Für mich war das ein absoluter Traum, aber ich traute unserer Mannschaft das auch zu.

Wie hast Du das Turnier in Atlanta erlebt, wenn Du zuvor schon so optimistisch und zuversichtlich warst?

 

Conny Dietz: Das Turnier in Atlanta war das Turnier meines Lebens. Im Vorfeld war gar nicht klar, ob ich überhaupt mitfahren würde. Wir waren sieben Spielerinnen, aber nur sechs konnten Teil des paralympischen Teams sein. Ich hatte beide Positionen im Goalball, also Center und Abwehr trainiert, alle anderen hatten sich auf eine Position spezialisiert. Ich war so glücklich, als ich schließlich nominiert wurde. Auch wenn ich das ganze Turnier auf der Bank gesessen hätte, wäre das für mich absolut in Ordnung gewesen. Tatsächlich kam es aber ganz anders. Die eigentliche Centerspielerin fand nicht richtig ins Turnier. Da bekam ich meine Chance und spielte mich in das Turnier. Die Goldmedaille war eine absolute Krönung.

2008 durftest Du einen weiteren ganz besonderen paralympischen Moment erleben: bei der Eröffnungsfeier in Peking warst Du Fahnenträgerin des deutschen Teams. Was war denn schöner: der Goldmedaillengewinn oder die Eröffnungsfeier als Fahnenträgerin?

 

Conny Dietz: Das kann ich gar nicht beantworten. Tatsächlich würde ich beide Erlebnisse auf eine Stufe stellen. Die Fahne bei der Eröffnungsfeier tragen zu dürfen, ist wie eine Goldmedaille zu gewinnen. Aber auch dieses Erlebnis war ein absoluter Traum von mir. Als ich Kind war, fanden die Spiele in München statt. Mit zehn Jahren nahm ich das olympische Flair zum ersten Mal richtig wahr. Da ich schon immer eine Affinität zu Fahnen habe, gab es für mich nichts Größeres. 2008 schlug mich mein Nationaltrainer als Fahnenträgerin vor. Ich hätte nie gedacht, dass mir diese Ehre zu Teil werden würde. Dafür bin ich ihm unendlich dankbar.

 

Heute stehst Du bei jedem Heimspiel des BVB vor dem Anpfiff mit einer Fahne auf dem Rasen vor der Südtribüne. Wie ist das Gefühl beim BVB die Fahne schwenken zu dürfen?

 

Conny Dietz: Es ist tatsächlich ein ähnliches Gefühl wie in Peking. Im Stadion schwenke ich die Fahne zehn bis fünfzehn Minuten, das war in Peking ähnlich. Wenn ich im Stadion auf dem Feld die Fahne schwenken darf, erinnere ich mich immer an Peking.

 

Wie ist Deine Affinität zum BVB überhaupt zustande gekommen?

 

Conny Dietz: 1966 gewann der BVB den Europapokal und ich bekam als kleines Kind eine BVB-Fahne von einer Kirmesschießbude. Die Fahne hatte ich immer bei mir. Zudem war ich immer BVB-Sympathisantin, da die Farbe gelb meine Lieblingsfarbe ist. Schwarzgelb finde ich einfach schick. Natürlich besuchte ich auch das Stuttgarter Stadion, als ich in Stuttgart zur Ausbildung war. Neben meiner Sympathie für den VfB schaute ich stets, wie es um den BVB bestellt ist. 1989 kam ich schließlich nach Dortmund und es war sofort um mich und den BVB geschehen (lacht).

Heute bist Du auf vielfältige Art und Weise mit dem BVB verbunden. Welche Aufgaben übernimmst Du dabei?

 

Conny Dietz: Zum einen arbeite ich im BVB-Lernzentrum, einer Initiative des Fanprojekt Dortmund e.V. Dort wird mit großer Unterstützung des BVB politische Jugendbildung angeboten. Das Fanprojekt steht für Fansozialarbeit und Streetwork. Das Lernzentrum war das erste in dieser Form in Deutschland. Hier können Schulklassen einen Tag lang das Klassenzimmer gegen den Lernort Stadion tauschen. Seit 2018 engagiere ich mich hier. 2018 schied ich aus dem Beruf aus und es gab ein Vorruhestandsmodell, bei dem man sich über drei Jahre zu 1000 Stunden ehrenamtlicher Arbeit verpflichtet, um den Vorruhestand behalten zu können. Die Arbeit des Lernzentrums fand ich sehr spannend: in Workshops arbeiten wir mit den Jugendlichen die Themen Diskriminierung, Fake News, Rassismus, etc. auf. Natürlich bestand zunächst noch die Frage, was ich mit meiner Sehbehinderung einbringen kann. Heute mache ich mit den Jugendlichen hauptsächlich Stadionführungen, aber eben auch Workshops. Hier bin ich drei bis vier Tage in der Woche aktiv. Einen Tag in der Woche arbeite ich auch bei der Dortmunder Tafel e.V. im Büro.

Beim BVB selbst bist Du aber doch auch aktiv, oder?

 

Conny Dietz: Beim BVB engagiere ich mich in der Fanabteilung. Wir sind alle ehrenamtlich aktiv. Mit der Arbeitsgruppe „Uns verbindet Borussia“ gehen wir z. B. in die Kinderklinik und lesen vor oder gestalten einen Nachmittag im Seniorenheim – so war das zumindest vor Corona. Über den Fanclub „Blind Date“ sind wir Teil des Fanrat beim BVB, eine Schnittstelle zwischen Fans und Verein.

 

Außerdem gibt es von Dir auch noch ein BVB-Spielerporträt.

 

Conny Dietz: Beim BVB gibt es seit 2017 eine Integrationssportabteilung mit Blindenfußball und Torball. Blindenfußball trainiere ich für meine eigene Fitness mit, spiele aber in der Bundesliga nicht mehr aktiv mit. Mit dem MTV Stuttgart wurde ich im Mixed-Team 2009 und 2010 Deutscher Meister im Blindenfußball. Dort bestand meine Rolle im Team darin, als Ersatzspielerin das Team bestmöglich zu unterstützen. Seit April 2022 gibt es an der TU Dortmund über den Hochschulsport auch eine AG Goalball. Wir wollen Goalball inklusiv spielen. Sehende und sehbehinderte Sportler*innen sind herzlich willkommen!

Mein neuestes Fußballprojekt ist das Training mit den Walking Footballern des BVB. Hier spiele ich mit, so gut es eben mit meiner Sehbehinderung geht. Da ich schon immer fußballverrückt war, und ich mittlerweile das Gefühl habe, dass dies mit zunehmendem Alter immer schlimmer wird, ist dies ein Ausflug zurück in die Kindheit… (lacht) Walking Football ist eine weitere schöne Variante, Fußball zu spielen. Wie der Name schon sagt, darf dabei nicht gelaufen, sondern nur gegangen werden. Der Platz ist kleiner als ein normales Fußballwelt und es wird ohne Torwart, aber auch ohne Fouls gespielt. Der Ball außerdem nicht über Hüfthöhe gespielt werden.

 

Dennoch kannst Du auch richtig schnell laufen – wir lernten uns schließlich dabei kennen.

 

Conny Dietz: Das Laufen fing ich erst in Dortmund richtig an. Vorher hatte ich noch keine richtige Kondition aufgebaut. In Dortmund konnte ich aber gut für mich trainieren. Für einige Zeit arbeitete ich auch in Bonn, wo es einen tollen Lauftreff unter den KollegInnen gab. Wir trainierten dabei auch für den Bonn Marathon. So erfüllte ich mir einen weiteren Traum und absolvierte insgesamt 8 Marathonläufe (lacht). So wuchs die Leidenschaft für das Laufen.

 

In Deinem Leben durftest Du also schon zahlreiche Träume verwirklichen. Welche Träume möchtest Du Dir denn noch erfüllen?

 

Conny Dietz: Das ist eine gute Frage (lacht). Ich überlegte schon, ob ich noch einmal einen Marathon angreifen soll, aber das schaffe ich zeitlich mit dem Training nicht. Mich würde es auf jeden Fall sehr freuen, ein ganzes Spiel beim Walking Football zu absolvieren. Das wäre noch ein kleiner Traum von mir.

 

Für diesen und alle weiteren Träume wünschen wir Dir alles Gute!

 

Das Interview führte Katharina Tscheu.

Bild: Gunther Belitz